Seit Jahren vergeht kaum ein Tag, an dem nicht über Artensterben berichtet wird. Zuletzt stand die Vernichtung von Insekten, ganz vorne den Bienen, im Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit. Gerade hier liegen die Ursachen mehrheitlich bei unserer modernen Landwirtschaft, dem Flächenverbrauch und dem massiven Einsatz von Pestiziden. Mit den Bienen verschwinden die Bestäuber, mit den Insekten im Allgemeinen eine wichtige Nahrungsmittelquelle der Vögel, deren Population damit ebenfalls zurückgeht, zumal sie von den Pestiziden auch direkt betroffen sind.
Das Verschwinden des Mikrobioms
Die meisten der Arten, die wir hier ausrotten, sind für uns wichtig, gegebenenfalls sogar überlebenswichtig. Was der öffentlichen Aufmerksamkeit bisher jedoch weitgehend entgangen ist, ist das Artensterben in uns. Das ist einerseits nicht verwunderlich, sind doch die Arten, die wir in und um uns tragen, mit dem bloßen Auge nicht wahrzunehmen. Andererseits sollte dieses Artensterben mindestens den gleichen Alarm auslösen, wie das der Arten um uns herum. Der Reihe nach.
Was ist das Mikrobiom?
Die PHD befasst sich unter anderem mit den Mikroben, die für uns schädlich sind oder, auch hier ist es eine Frage von den richtigen Verhältnissen, schädlich werden können. (Kapitel 38 „Infektiöse Ursprünge“, S. 83).
Das „Mikrobiom“ ist die Gesamtheit der mikrobiellen Genetik, die wir in uns und an uns tragen, und die die unsere an Vielfalt um fast das Hundertfache übertrifft, oder jedenfalls übertreffen sollte. In der PHD ist noch von mehr als 1000 verschiedenen Arten die Rede, andere gehen inzwischen vom zehnfachen aus, inzwischen wird das Mikrobiom als eigenes Organ mit einer Wirkung auf jedes andere Organ gesehen.
Diese Mikroben haben unterschiedliche Aufgaben, die vielleicht wichtigste: Sie sind ein unerlässlicher Teil unseres Immunsystems. Bis zu 15 % der Kalorien, die wir aus unserer Nahrung bekommen, werden uns erst von unseren Bakterien zur Verfügung gestellt. Inzwischen zeigt sich auch, dass es genau daran liegt, dass einige Menschen „essen können, was sie wollen“, ohne zuzunehmen, das hängt höchstwahrscheinlich mit ihrer individuellen Ausstattung an Mikroben zusammen. Auch Mikronährstoffe wie Vitamin K, entstehen nicht ohne bakterielle Unterstützung. Mikroben beeinflussen unsere Stimmung, und das Wort „Bauchentscheidung“ beschreibt die Rolle des Mikrobioms, dessen Masse im Darm angesiedelt ist, durchaus richtig. Manche sprechen vom „zweiten Gehirn“. Einige Spötter gebrauchen diesen Begriff inzwischen, wenn sie über die graue Masse im Kopf sprechen, soll heißen, sie gehen davon aus, dass Mikroben unser Denken und Handeln stärker beeinflussen, als die Prozesse im Gehirn.
Menschen unterscheiden sich in ihrer Humangenetik nur minimal voneinander, anders sieht es bei Mikrobiom aus. Dieses Mikrobiom verändert sich auch im Laufe unseres Lebens immer wieder, abhängig von unserem Aufenthaltsort, unserem Alter (auch das Mikrobiom altert), unserer Nahrung, der Luft, die wir atmen, von unseren akuten und chronischen Krankheiten und in der Folge natürlich auch den Medikamenten, die wir einnehmen.
In der PHD heißt es dazu folgerichtig: „Alle Menschen haben mehr oder weniger dieselben Nahrungsmittelbedürfnisse, aber Krankheiten und Unterschiede in der Struktur des Verdauungstrakts, in der für die Verdauung von Stärke zuständigen Genen und in der Darmflora können zu individuellen Unterschieden führen.“ (S. 83)
Artensterben in uns
Zurück zum Ausgangspunkt: Unser Mikrobiom wird immer kleiner. Die Artenvielfalt unserer Mikrobiota schwindet. Es muss davon ausgegangen werden, dass unsere gesundheitlichen Probleme, allen voran Nahrungsmittelunverträglichkeiten, aber auch Autoimmunkrankheiten und bis hin zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Krebs damit zusammenhängen oder dadurch verschärft werden.
Wir sollten darauf achten, wenig Toxine aufzunehmen, jedes Mal verändert sich unser Mikrobiom, und wir müssen davon ausgehen: nicht zum Besseren. Auch die in der konventionellen Landwirtschaft immer noch übermäßig eingesetzten Antibiotika landen mit dem Tier auf unseren Teller.
Vergleicht man das Mikrobiom von Naturvölkern und mit unserem „westlichen“, kann man feststellen, dass diese Naturvölker eine deutlich größere Artenvielfalt in sich tragen als wir. Auch das Mikrobiom unserer Vorfahren war wesentlich vielfältiger als unseres. Wer nicht so weit gehen will, kann die Artenvielfalt der Mikrobiota eines Städters mit der eines Landbewohners vergleichen – mit demselben Ergebnis.
Eine der Hauptfolgen: Ausgestorbene Mikroben können wir auch nicht an unsere Kinder weitergeben, die dann bereits mit einem Defizit starten müssen. Das dürfte einer der Gründe sein, warum heute chronische Krankheiten, angefangen beim Übergewicht, immer früher einsetzen.
Die Zusammensetzung verändert sich
Problem ist nicht nur das Verschwinden der Vielfalt, sondern die Tatsache, dass „kein Stuhl unbesetzt“ bleibt, wie es mal ein Fachmann ausdrückte: Die Zahl der Mikroben bleibt gleich, aber plötzlich sind es Keime, die (mindestens in dieser Menge) unzuträglich sind – und die deshalb in großer Zahl überleben, weil sie sich in Ermangelung natürlicher Gegner und wegen ihrer Resistenz gegen Antibiotika (Mikroben können lernen!) ihr eigenes Biotop geschaffen haben.
Nun gibt es inzwischen durchaus die Möglichkeit mit Probiotika die (vermutlich) wichtigsten Mikroben zu ersetzen oder zu ergänzen – mindestens theoretisch. Das Problem dabei: Manche, wie die Akkermansiae (Akkermansia muciniphila, leben in großer Zahl in der Darmschleimhaut schlanker Menschen), lassen sich bisher nicht in Nahrungsergänzungsmittel packen.
Viele der Mikroben, die es verkapselt gibt, schaffen darüber hinaus die Hürde „Magensäure“ nicht (darum ist es immer wichtig, hoch genug zu dosieren) und die, die es bis in den Dickdarm, wo sie mehrheitlich hingehören, schaffen – verhungern dort gleich wieder. Stellen Sie sich vor, Sie seien der Direktor eines Zoos (Sie sind der Direktor eines Zoos!), besetzen ein leeres Gehege mit wertvollen Tieren neu, bevor sich dort Ungeziefer breit machen kann – und dann vergisst der Tierpfleger (auch Sie…), die Tiere zu füttern.
Mikrobiota sind empfindlich, die einen mehr, die anderen weniger, vor allem die empfindlichen gilt es zu schützen. Dafür braucht es die sogenannten Präbiotika – Futter für die Kleinen, resistente Stärke, Faserstoffe, kurzkettige gesättigte Fettsäuren.
Wer schlau ist, isst regelmäßig die von der PHD empfohlenen fermentierten Lebensmittel, die sind beides, das heißt die Bakterien bringen ihr Futter mit, und schon eine Gabel rohes Sauerkraut oder saure Möhren enthält ein Vielfaches mehr an Lactobazillen, als das höchstdosierte Probiotikum!
Niedliche Mikroben
Das größte Problem unserer Bakterien ist ihre Unsichtbarkeit, gerade das macht sie für die einen unfassbar, für viele auch bedrohlich und führt zu völlig überflüssigen (ja gefährlichen, weil antibiotischen) Handreinigungsgeräten in jedem Supermarkt. Wenn wir sie sehen könnten, würden wir über ihre Vielfalt staunen und ihre unterschiedlichen Formen bewundern, sie vielleicht sogar niedlich finden. Wer das einmal erleben will, dem sei eine identitätsstiftende Fahrt nach Amsterdam empfohlen, ins weltweit einzige Museum für Mikrobiota, dort werden sie sichtbar gemacht, live unter Mikroskopen und in beeindruckenden Glasmodellen. Ihr Verhältnis zu Ihren Mitbewohnern wird nie wieder dasselbe sein.